9.2.–19.4.2017
Eröffnung: Donnerstag, 9.2.2017 19 h
Es ist unbestritten, dass kollektive Erinnerungen einen entscheidenden Einfluss auf die allgemeine Vorstellung von Gegenwart und Zukunft haben. In die Stadtlandschaft schreibt es sich unübersehbar durch Gebäude, Denkmäler, Infrastruktur und vieles mehr ein. Geschichte manifestiert sich hier zunächst als konkreter Fakt nicht als textliches Narrativ. Zahlreiche dieser Architekturen sind jedoch auch mit persönlichen und kollektiven Mythen und Geschichten verbunden, die sich mit historischen Tatsachen zu einem Amalgam verbinden, das nicht notwendig mit Zahlen unterlegt werden kann aber trotzdem nicht weniger real ist.
Interessante Architektur hat zu allen Zeiten unzweifelhaft identitätsstiftend gewirkt und es vermocht, das kollektive Gedächtnis zu beeinflussen. Die Berliner Künstlerin Andrea Pichl untersucht in ihrer Installation Keine Atempause, Geschichte wird gemacht Regeln und Mechanismen, die diesen Prozess bestimmen. Als 20stes Projekt der laufenden Reihe Wallworks im Foyer des L40 hat sie eine Isometrische Zeichnung des Palasts der Sowjets nach einem Entwurf von Hans Poelzig entwickelt, den der Architekt bei der von Stalin persönlich 1931 initiierten Ausschreibung eingereicht hatte. Obwohl dieser Entwurf – genau wie die seiner modernistischen Kollegen Le Corbusier, Gropius oder Mendelsohn, nicht realisiert wurde, erwies er sich als idealer Ausgangspunkt für Pichls künstlerische Analyse. Der Bogen ihrer Referenzen spannt sich von der politisch motivierten Zerstörung und späteren Wiedererrichtung der Moskauer Christ-Erlöser-Kathedrale bis hin zu ganz persönlichen Erinnerungen an das gigantische Freibad auf den Fundamenten des aufgegebenen Baus des russischen Architekten Boris Jofan am gleichen Platz. Ebenso sind Assoziationen zu realisierten wie unrealisierten oder im Zweiten Weltkrieg zerstörten Gebäuden von Hans Poelzig, die unmittelbar die Nachbarschaft des Kunstvereins bestimmen, und zur nahe gelegenen, ehemaligen Zentrale der deutschen Kommunistischen Partei, unvermeidlich.
Um Missverständnissen vorzubeugen: Obwohl direkt von einem spezifischen Gebäude abgeleitet, dient die Arbeit nicht dazu, dessen Schicksal zu dokumentieren. Stattdessen wird am Beispiel des Palasts der Sowjets untersucht, welchen Einfluss historische und soziale Koordinaten auf die Stadtlandschaft haben. In diesem Sinne liefert Pichls Installation eine Diskussionsgrundlage für eine weiterführende Auseinandersetzung mit den Auswirkungen ideeller Konstruktionen auf jede geistige und materielle Selbstverortung – sinnfällig vor Ort am Rosa-Luxemburg-Platz nachvollziehbar, der zwischenzeitlich als Horst-Wessel-Platz firmierte und einst als Bülowplatz angelegt wurde.
+++ English
From the point of view of urban theory history consists of those facets of the environment – buildings, sculptures, infra-structural objects etc. – which originated in previous periods. According to this definition history is not an abstraction but a layer of concrete facts. However, a lot of these architectural facts are mixed with individual and collective myths forming an alloy that is not necessarily based on numbers but nonetheless real.
Palpably, interesting architecture has managed to create a sense of identity and to supported collective memory at all times. In her new installation Keine Atempause, Geschichte wird gemacht Berlin based artist Andrea Pichl investigates the rules and mechanisms that define this process. As 20th implementation of the ongoing series of wallworks at L40 the artist chose to create an isometric projection of the Palace of the Soviets based on a design Hans Poelzig submitted to the architectural contest initiated by Stalin personally in 1931. Although neither Poelzig’s draft nor those of his vanguard competitors Le Corbusier, Gropius or Mendelsohn, were realized it nonetheless appears as an ideal starting point for Pichl’s artistic analysis. References include the destroyed and recently resurrected Cathedral of Christ the Saviour as well as the artist’s personal memories of a giant public pool in the ruins of the aborted winning design by Russian Boris Jofan. Associations are made to the headquarter of the former German communist party close by and to realized and unrealized buildings by Hans Poelzig – as well as some which were destroyed in WWII – that defined the neighbourhood.
To avoid misunderstandings: Although derived from a specific building the artwork is not intended to explain it’s individual history. Instead the genesis of the Palace of the Soviets is used as an essay on the impact of historical and sociological coordinates that effect the urban landscape. Pichl’s installation provides the background for a larger discussion focused on ideational constructs some of which have influenced the immediate neighbourhood of the Kunstverein deeply, which is located at Rosa-Luxemburg-Platz, once named after Horst Wessel and originally established as Bülowplatz.