soft cruelties, Lena Marie Emrich

10.11.2023, 19:30h – Olga Hohmann liest eine Collage eigener Texte auf Lena Marie Emrichs Ménage à trois.

Ausstellung und Bar sind ab 18h geöffnet.

Ob Venedig, Sardinien oder Uluru. Orte, an denen Schönheit zum Fluch wird, nehmen rasant zu. Overtourism aber auch überzogene Erwartungshaltung werden zur Norm im Wettreisen um die Welt. Lena Marie Emrichs‘ Ausstellung soft cruelties kreist um die daraus resultierende Konstruktion aus Realität, Fiktion und Spekulation. Dafür inszeniert die Künstlerin Sonnenschirme, sandfarbene Intarsien, Wunschbrunnen und eine Bank aus dem Garten Eden. Willkommen im Paradies von Lena Marie Emrich.

Für ihre jüngste Erzählung bedient sich die Künstlerin, wie so oft, alltäglicher Objekte und Materialien, die aus ihrem Kontext herausgelöst, manipuliert, nachgebaut und/oder überästhesiert werden. Kennzeichnend ist die Verwendung von technischen Werkstoffen in neuen Kontexten. Polierte Oberflächen, Ahorn, Bambus, farbige Einsprengsel – in den neuen Arbeiten trifft eine kühle, dennoch poetische Formensprache auf Materialien aus konträren Anwendungsbereichen. Die Palette reicht vom hochwertigen Festkörpermaterial HIMACS über eine Gruppe leicht trashiger Sonnenschirme aus Kunststoff-Raffia zu großformatigen Fensterfolien. Bei allem Realismus bleiben die einzelnen Arbeiten dabei meist assoziativ und in der Gruppe suggestiv.

In der für den Kunstverein neu entwickelten Ausstellung beleuchtet Emrich speziell jene Momente, in denen das Streben nach individuellem Vergnügen mit moralischen Grundsätzen in Konflikt gerät. So beschreibt der Titel sinngemäß jenes ungute Gefühl, von dem wir wissen, dass es sich unweigerlich einstellt, wenn wir uns entscheiden, die 1,99 Euro für die CO2-Kompensation bei der Buchung eines Flugs doch nicht zu bezahlen.

In dieser Hinsicht sind die Skulpturen von The plunge, die den  Ausstellungsraum bevölkern, Metaphern für genau diese Diskrepanz, die soft cruelties so perfide macht. Das tödliche Schwert als Verlängerung des Sonnenschirms für die rücksichtslose Revierbesetzung im morgendlichen Kampf um die besten Plätze am Pool, oder als Handtuchhalter für den Zeitraum nach der geglückten Landnahme, steht dabei natürlich für Stärke, Macht oder Der Sonnenschirm hingegen wird mit Entspannung, Schutz vor der Sonne und Leichtigkeit assoziiert. Das Ergebnis dieser Kombination ist paradoxerweise „perfekt“ weil es in einer Welt, in der normale Konventionen von Ästhetik und Funktionalität herrschen, eine Herausforderung für traditionelle Vorstellungen darstellt – auch weil beide Elemente für sich genommen bereits eher extravagant sind, also weder funktional noch angemessen, und im Falle des Schwerts nicht mal echt.

Ist der gute Geschmack im Vorhergehenden in vielerlei Hinsicht herausgefordert, so wirken die sechs wie in Stein gemeißelten Reliefs, die Wunschbrunnen (wishing well) und das Konversationsmöbel Menage a trois (Garden Eden) in ihrer zurückhaltenden Farbigkeit und mit ihren perfekten Oberflächen ausgesprochen elegant. Sie alle sind aus HIMACS gefertigt, einem eigentlich in architektonischen Kontext verwendeten Plattenmaterial, das Emrich gefräst, gesägt, graviert und geschliffen hat. Die entstandenen Arbeiten zeugen von einer „… versteinerten Welt, aus der jede Flüchtigkeit entweicht. Ein Gegenentwurf zur Fluidität digitaler Screens, obschon am Computer entworfen, von CNC-Fräsen ausgeschnitten. Hier ist alles (vermeintlich) in Stein gemeißelt. Die Zeit steht still. Die Banalität des Alltags hat sein Monument gefunden.“ (Gianni Jetzer)

Abgeleitet von den Konversations-Möbeln (conversation pieces) des 18. und 19. Jahrhunderts, ist Menage a trois (Garden Eden) offensichtlich für drei Personen gedacht. Ganz im Sinne von Franco Berardi (Chaos and Poetry) nutzt die Künstlerin sie als aktivierendes Moment. Denn physische Nähe gepaart mit irritierender Fragmentierung und Dekonstruktion gewohnter Sprache regt zum Nachdenken an und fördert den Austausch.

Auf der Erde sind die Dinge weniger harmonisch. Deserted landscape offenbart eine unwirkliche Verwandlung irgendwo im nirgendwo, wo Autos wie umgedrehte Käfer auf dem Rücken liegen – eine surreale Metamorphose der Mobilität im post-anthropozänen Zeitalter. Die einstigen Ikonen der menschlichen Mobilität sind nun gestrandet. Fiat, Synonym für Fortbewegung, kehrt zu seiner ursprünglichen Bedeutung zurück: Es werde geschehen.

Offensichtlicher beziehen die übrigen Reliefs zum Thema Reisen Stellung. Wie in Swifts Gulliver zielt die Umkehr der Größe und damit der Macht in From Equanimity to tranquility auf die daraus resultierenden sozialen Konsequenzen Das zugrundeliegende Thema ist die Rolle einer Kultur des Überflusses. In Superyachten kondensieren sich alle Ungleichheit des herrschenden Kapitalozän  (Grégory Selle). Indem sie eine solche Yacht mit einem Stock wegstößt, kehrt eine absurd große Frau in einem Akt der Selbstermächtigung die konventionellen Rollen um.

Ähnlich monumental und dabei vollkommen anonym erscheint die unter ihren Plastikponchos kaum mehr als Körper zu identifizierende Menschengruppe in Hugging raincoats während In Limbo zunächst heiter daherkommt. Bis dem Betrachter auffällt, dass eine anonyme Hand die Tänzerin brutal an ihrer Blumenkette zu Boden zieht. Anlass zu Spekulationen bietet das Relief Phallocentric keychain. Hält man sich an die Psychoanalyse, könnte man sagen, dass ein Turm der Ausdruck einer „vertikalen Überkompensation“ ist, quasi ein erectus completus – wo Höhe und Potenz in einer gewissen Weise zusammentreffen. Außer der Turm hängt wie in diesem Fall als Miniaturturm am Schlüsselring.

In Fight or Flight sehen wir wenig mehr als den Rumpf eines Menschen mit Anschnallgurt. Der Anschnallgurt, der normalerweise als Sicherheitsmaßnahme während des Fluges dient, wird in Emrichs Arbeit zu einem visuellen Ankerpunkt für die komplexen Entscheidungen, die wir in bedrohlichen Situationen treffen. Die Theorie geht davon aus, dass bei der Konfrontation mit einer potenziell gefährlichen Situation der Körper auf zwei Hauptweisen reagiert: durch Kampf (Fight) oder Flucht (Flight). Durch die Fokussierung auf den Anschnallgurt, der eine symbolische Verbindung zur Flugreise herstellt, bringt die Künstlerin diesen Dualismus der Überlebensstrategien in einen beklemmend bekannten Kontext. Ein Wunschbrunnen hilft in Fight-or-Flight -Situationen sicher ziemlich wenig. Es ist jedoch möglich, dass das Werfen von Münzen in einen Wunschbrunnen eine beruhigende und entspannende Wirkung haben kann, was zur Bewältigung von Stress beitragen könnte. Zu diesem oder anderen Zwecken gibt daher zwei in der Ausstellung.

Schlussendlich bleibt die Frage, ob wir am Ende alle terribel tourist sind?  Um das herauszufinden, besuchen Sie soft cruelties, wo das sanften Grausamkeiten des Lebens auf subversive Weise enthüllt werden.

Die Ausstellung wurde ermöglicht durch Unterstützung von

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